Diese Dichter! Diese Lügner!
Diese Dichter! Diese Lügner!

Diese Dichter! Diese Lügner!

Ich danke meinem Studenten Benjamin Thimm für seine Ausführungen zu seinem Diskussionsthema „Sind Dichter Lügner?“ Im Seminar wurde die These engagiert diskutiert und führte in erster Linie zu noch mehr Fragen. Sagen Dichter nicht vielmehr die Wahrheit und lügen stattdessen Theologen und Historiker? Sind Gedanken real oder haben sie nur eine fiktive Existenz? Können wir nur im Rahmen unserer körperlichen Erfahrung denken? Spannende Fragen, die auf weitere Diskussionen neugierig machen. Zumindest mich.

Hier der Beitrag:

Dichtung: Lüge, Wahrheit oder etwas dazwischen? Sind gar alle Dichter Lügner? Kann es tatsächlich Gründe geben, Fiktion als faktual zu bewerten oder muss klar zwischen beiden differenziert werden?

Ein erster Gedankengang, der diese Frage beantworten kann, findet sich in der so genannten Apparatus-Theorie, z.B. bei Jean Louis Baudry. Vereinfacht formuliert besagt dieser Ansatz, dass ein Rezipient während der Rezeption von Film keine Trennung zwischen sich, der Realität, und dem Film, der Fiktion, wahrnimmt. Die beiden Dimensionen verschwimmen, lösen sich auf, ja schieben sich geradezu ineinander. Das Gesehene erscheint einheitlich und kohärent. Wer sich schon mal beim Schauen eines Filmes erschreckt hat, wird diesen Gedankengang gut nachvollziehen können.

Untermauert wird diese These in gewisser Weise von Immanuel Kant, der in seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft von der so genannten aktiven Sicht der Dinge spricht.  Dieser Ansatz postuliert im Wesentlichen, dass wir Menschen hinsichtlich unserer Wahrnehmung insofern determiniert sind, als dass wir, bedingt durch die zur Verfügung stehenden Sinne, die objektive Welt nur Ausschnittweise erleben. Wir nehmen also die Phänomene unabhängig davon wahr, wie die Dinge an sich tatsächlich sind.

Verhält es sich nicht so nun auch bei Literatur, Dichtung, ja jedem fiktiven Werk? Sind nicht gar alle Gedanken in gewisser Weise real? Ein (fiktives) Alien kann durchaus völlig real im Kopf eines Menschen existieren – ganz unabhängig davon, ob es in einer weit weit entfernten Galaxie tatsächlich extraterrestrisches Leben gibt oder nicht.

Treten nicht in gewisser alle fiktiven Charaktere oder Ereignisse geradezu metaleptisch, wie es bei Gérard Genette genannt wird, aus dem Buch heraus und wirken auf uns, als reale Personen, ein?

Wenn diese Überlegungen jedoch stimmen sollten, wie verhält es sich dann mit Theologen oder mit Historikern? Wenn (erzeugte) Gedanken als faktual gelten müssen, muss dann nicht alles, aber auch wirklich alles, was jemals gedacht oder gesagt wurde real sein oder zumindest als solches bewertet werden? Wird nicht im Sprachgebrauch eine Lüge als das Ausgeben von Fiktion als Fakt definiert? Und benötigen wir nicht zwingendermaßen die reale Welt als Ressource, die unsere Phantasie beflügelt, die, wie es bei E.T.A. Hoffmann heißt, als Himmelsleiter fungiert, auf der wir in phantastische und fiktionale Welten emporsteigen können?

Eventuell löst sich die Problematik auf, wenn Dichtung und Fiktion als Realität zweiter Stufe angesehen werden, die unabhängig von der realen Welt bestehen, aber durch diese erst inspiriert und ermöglicht werden?!